Die Politik ist noch lange nicht am Ende:
Sieben vorläufige Thesen zur Demokratie in Europa.
Auf einmal wird wieder ganz grundsätzlich über Demokratie geredet in Europa. Die Idee von Giorgos Papandreou, das griechische Volk über das Sparpaket der EU abstimmen zu lassen, hat die politische Landschaft blitzartig erhellt. Und was man da sehen konnte, war beunruhigend und lehrreich, zu sehen war ein Kontinent im demokratischen Umbruch.
Einige, wie der Philosoph Jürgen Habermas, sehen die Demokratie dabei schon wieder kurz vor ihrem Ende, sie nennen das »Postdemokratie«. Als Verfallsbeweis dient ihnen, dass Angela Merkel und Nicolas Sarkozy die griechische Volksanrufung verhindert haben. Habermas macht es sich in seinem Furor gegen die beiden jedoch zu einfach. Auch der Franzose und die Deutsche standen bei ihren Regierungen, ihren Parlamenten, ihren Völkern im Wort, und denen war von einem Plebiszit der Griechen nichts gesagt worden, als sie ihre Entscheidungen über das Rettungspaket trafen. Hier stand also nicht die Herrschaft des griechischen Volkes gegen deutsch-französische Herrschsucht, hier stand einfach Demokratie gegen Demokratie.
Tatsächlich lassen sich sieben andere demokratische Lehren aus den letzten Monaten ziehen:
1. So sympathisch Papandreous demokratischer Verzweiflungsakt auch gewesen sein mag, so sehr trug er paradoxe Züge. Denn in Wahrheit hatte das griechische Volk gar keine Wahl, es sei denn, man wollte die Alternative »Friss oder stirb« als eine demokratische Wahl bezeichnen. Daran zeigt sich, dass die Demokratie nicht nur freie Meinungsäußerung, einen Rechtsstaat und ein Mehrparteiensystem braucht. Demokratie wird auch dann zur Farce, wenn es in der Sache schlicht nichts mehr zu wählen gibt.
2. Daraus ergibt sich eine zweite Lehre, die weit über Griechenland hinausgeht. Jahrzehntelang hat man geglaubt, dass demokratische Staaten Schulden machen können, sollen und dürfen, um das politische Getriebe am Laufen zu halten. Heute weiß man, dass sich echte Wahlfreiheit und Schulden nicht vertragen. Man könnte auch sagen: je mehr Schulden, desto weniger Demokratie. Irgendwann kommt nämlich der Punkt – und diesem Punkt nähern sich zurzeit etliche demokratische Staaten –, an dem nicht mehr das Volk, das Parlament oder eine Regierung die Macht haben, sondern die Gläubiger.
3. Schmerzhaft gelernt werden muss nun auch, dass es keineswegs egal ist, von welcher Art diese Gläubiger sind. Die Lage wäre bei Weitem demokratieverträglicher, wenn es sich dabei um seriöse Banken klassischer Art handeln würde mit Bankern an der Spitze, die ein Interesse an der Stabilisierung der demokratischen Staaten haben. Das Gegenteil ist der Fall. Die Finanzmärkte sind nicht nur gleichgültig oder unpatriotisch, sie profitieren davon, die Demokratien durchs Kasino zu jagen, sie haben ein genuines Interesse an der Ausbeutung der Steuerbürger.
4. Daraus folgt wiederum, dass demokratische Staaten, solange sie noch Schulden haben, dafür sorgen müssen, dass die Finanzmärkte langsamer arbeiten – dazu könnte eine Finanztransaktionssteuer beitragen –, dass sie daran gehindert werden, ihre Gewinne zu privatisieren und die Verluste zu sozialisieren – dabei könnte eine Trennung von Hausbank und Investmentbank helfen. Verschuldete Demokratien brauchen regulierte Finanzmärkte. Doch auch bei besserer Regulierung bleibt richtig, dass die Regierungen in Maßen Politik gegen die Märkte treiben können, nicht aber gegen die Mathematik.
Wenn es ernst wird, verliert Brüssel an Macht
5. Die Schuldenkrise unterzieht die EU einem demokratischen Stresstest, der nun erste Ergebnisse zeitigt. Wenn es ernst wird, dann verliert Brüssel rapide an Macht. Die Kommission und das EU-Parlament haben dramatisch an Bedeutung eingebüßt. In der überschnellen Krisenpolitik der letzten zwei Jahre wurden die nationalen Regierungen wieder zu den eigentlichen Akteuren. Einzig die nationalen Parlamente sind noch in der Lage, den Krisenspitzenpolitikern demokratisch in den Arm zu fallen, wenigstens dann und wann. Die europäische Demokratie führt unter diesem Druck zu einem Sieg des Intergouvernementalen über das Transnationale, zu einem Vorsprung der nationalen Parlamente gegenüber dem Europäischen Parlament.
6. Die europäischen Institutionen beruhten bis zur Krise darauf, dass die kleinen Länder gewissermaßen demokratisch gehebelt wurden. Die Stimme eines Luxemburgers oder eines Portugiesen zählte bei Weitem mehr als die eines Deutschen oder Franzosen. Nun aber setzt sich, wenn man so will, der Goldstandard der Demokratie – ein Mensch, eine Stimme – wieder durch. (Das umso mehr, wenn dieser Mensch weniger Schulden hat.) Darum haben Merkel und Sarkozy nun die Führung, während Scheinriesen wie Jean-Claude Juncker oder José Manuel Barroso zu Randfiguren werden. Vor diesem Hintergrund muss sich Europa künftig etwas mehr an diesem Goldstandard orientieren, wenn es nicht zur Attrappe werden will.
7. Gerade diejenigen, die einen europäischen Megastaat wollten, taten bisher immer so, als sei das die einzige Möglichkeit, zu mehr Europa zu kommen. Nun zeigt sich: Mehr Europa geht auch mit zwischenstaatlichen Institutionen, starken nationalen Parlamenten und harten Regeln für alle – und mit weniger Brüssel. Damit hat Europa nicht mehr nur die Wahl zwischen mehr oder weniger Europa, sondern auch zwischen zwei Modellen des Mehr. Am Ende wird es wohl eine Mischung aus allem. Was wieder so richtig schön europäisch wäre.
QUELLE DIE ZEIT, 10.11.2011 Nr. 46 von Bernd Ulrich